Es gibt einige schwerwiegende neurologische Erkrankungen, die im Frühstadium mit einem MRT praktisch nicht zu diagnostizieren und zu beurteilen sind. Sie weisen jedoch bestimmte Frühindikatoren auf, die sich im Auge erkennen lassen. Eine solche Erkrankung ist die Multiple Sklerose (MS). Die optische Kohärenztomographie, kurz OCT, kann zur Beurteilung der durch MS verursachten Netzhautschäden eingesetzt werden. Diese Schäden dienen nämlich als Marker für den umfassenderen neurodegenerativen Prozess, der im gesamten Gehirn stattfindet. Der Neurologe und MS-Experte Professor Bart Van Wijmeersch leitet das MS-Universitätszentrum im belgischen Pelt. Er erklärt, wie die OCT-Bildgebung bei der Bestimmung der MS-Diagnose, der Behandlung und der Nachsorge helfen kann.
Multiple Sklerose ist eine lebenslange Autoimmunerkrankung, die das zentrale Nervensystem befällt. Zu Beginn dieser Krankheit bilden sich einige Läsionen im Gehirn, die ein erstes Symptom verursachen können. Das wird als „klinisch isoliertes Syndrom“ eingestuft. Wiederholt sich so ein Syndrom, wird das als „schubförmig-remittierende MS“ bezeichnet. Das kann später in andere Formen übergehen wie z.B. eine progressive MS. Auf zellulärer Ebene entwickelt sich MS durch eine Kombination aus entzündlichen Läsionen, gleichzeitigem axonalen Verlust (ein Axon ist eine Art „Nervenfaser“, die zur Leitung elektrischer Impulse von Neuron zu Neuron dient) und Demyelinisierung (Schädigung der Myelinscheide um die Nerven), die zu Neurodegeneration und Hirnatrophie führen. Die Diagnose einer MS kann allerdings sehr schwierig sein. Die Krankheit schreitet oft über viele Jahre hinweg unterhalb einer klinischen Schwelle fort, ohne dass die Patient:innen das bemerken. Mit der MRT können zwar Läsionen im Laufe der Zeit erkannt werden – allerdings ist das für die Erkennung aller Läsionen im Gehirn nicht immer zu 100% zuverlässig. „Insbesondere Läsionen der kortikalen grauen Substanz sind im MRT nicht gut zu erkennen“, erklärt Professor Van Wijmeersch. „Etwa 80 % dieser Läsionen werden daher nicht erkannt.“
Erste Hinweise
Der Sehnerv ist neben dem Gehirn und dem Rückenmark einer der drei Schlüsselbereiche, die zu Beginn der Erkrankung am häufigsten von MS betroffen sind. Daher kann eine Entzündung des Sehnervs einer der ersten Hinweise darauf sein. OCT wird zur Abbildung und Messung der verschiedenen Schichten der menschlichen Netzhaut verwendet und kann darum auch Details über durch MS verursachte Netzhautschäden liefern. „Etwa 80 % der MS-Patient:innen haben eine Atrophie der retinalen Nervenfaserschicht und der Ganglienzellenschicht der Netzhaut, und 40 % der Patient:innen haben Probleme mit den inneren Kernschichten der Netzhaut“, erklärt Professor Van Wijmeersch. „Mit OCT haben wir die Möglichkeit, diese Schichten im Detail zu untersuchen – sogar in Echtzeit.“
Wichtiges Bewertungsinstrument
OCT ist ein schnelles und nicht-invasives Verfahren zur Abbildung der Netzhautschichten. Es wird aber auch in vielen medizinischen Fachbereichen ausserhalb der Augenheilkunde eingesetzt, beispielsweise in der Kardiologie und in der Forschung. OCT kann bei der Beurteilung von MS in dreifacher Hinsicht genutzt werden: Diagnose, Prognose und Nachsorgung der Behandlung. „Die Verwendung von OCT (Optische Kohärenztomographie) zur Diagnose von MS (Multiple Sklerose) ist wenig überraschend, da eines der ersten Symptome der Erkrankung eine Entzündung des Sehnervs ist. OCT kann aber auch zur Prognose und zur Nachsorge von Behandlungen oder zur Langzeitbeobachtung der Patient:innen eingesetzt werden“, beschreibt Professor Van Wijmeersch. „Ich denke, dass dies der vielversprechendste Beitrag ist, den die OCT bei der Beurteilung von MS leistet. Ich gehe davon aus, dass sie in der klinischen Praxis einen sehr grossen Einfluss haben kann. Was auf der Netzhaut passiert, spiegelt das wider, was bei MS im Gehirn passiert“, fährt er fort, „Studien haben gezeigt, dass die Atrophie im Gehirn im Laufe der Zeit aufgrund von MS sehr stark mit dem Verlust der Dicke der Netzhaut-Nervenfaserschicht korreliert. Je dünner diese also ist, desto mehr Atrophie gibt es.“ Die Erkennung des Fortschreitens von MS und Neurodegeneration, bevor Patient:innen davon betroffen sind, kann die Möglichkeit einer Behandlung verbessern. Man kann den Verlust von Nervenzellen verlangsamen und sogar einen Teil der durch die Krankheit verursachten Schäden rückgängig machen.
Die Verwendung von OCT (Optische Kohärenztomographie) zur Diagnose von MS (Multiple Sklerose) ist wenig überraschend, da eines der ersten Symptome der Erkrankung eine Entzündung des Sehnervs ist.“
Werkzeug der Zukunft
Die Prognose zum Fortschreiten von MS, unabhängig von einzelnen Schüben, ist nach wie vor sehr schwierig, weil es an zuverlässigen Biomarkern für die Neurodegeneration mangelt. Professor Van Wijmeersch hat allerdings Hoffnung. „Der Einsatz von OCT zur Kartierung von Veränderungen in der retinalen Nervenfaser- und Ganglienzellenschicht kann als Grundlage für die Diagnose, für die Wahl der Behandlung und für die Überwachung des Ansprechens der Patient:innen auf die Behandlung der MS dienen. Ich denke, das wird in Zukunft der Weg sein.
Neben dem exzellenten Ruf als führendes Unternehmen in der MRT-, CT- und Ultraschalltechnologie wird Canon Medical in der Augenheilkunde zunehmend für das Angebot an hochwertigen Bildgebungssystemen für die Augenheilkunde anerkannt. Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung, die uns freundlicherweise von Canon Medical Systems Europe aus dem VISIONS Magazin #38 zur Verfügung gestellt wurde.
Über Professor Van Wijmeersch
Professor Bart Van Wijmeersch ist Neurologe und Spezialist für Multiple Sklerose (MS). Er ist medizinischer Leiter des MS-Zentrums der Universität im belgischen Pelt, wo er ein multidisziplinäres Team leitet. Er ist zudem Gastprofessor für Neurologie an der Universität Hasselt in Belgien, wo er an der vorklinischen und klinischen Forschung zu MS beteiligt ist. Er war Mitbegründer und erster Präsident der ParadigMS Foundation. Diese Organisation widmet sich der MS-Ausbildung und der Verbesserung der täglichen klinischen Versorgung von Menschen mit MS. Darüber hinaus ist er Mitglied der belgischen Studiengruppe für Multiple Sklerose und einer Reihe von Beratungsgremien. Als Anerkennung für seine wissenschaftliche Arbeit, wurde Professor Van Wijmeersch 2019 von der flämischen Regierung mit einem Ehrenpreis ausgezeichnet.