„Die schönste Idee“ – World Unseen, ein Jahr danach

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Eine ältere Frau mit kurzen Haaren, Ohrringen und Brille interagiert mit einem World Unseen-Exponat. Vor ihr sind grosse Schwarz-Weiss-Bilder von Händen zu sehen. Ihre Hände berühren ähnliche Schwarz-Weiss-Bilder, die auf einem Sockel darunter angebracht sind.

Wenn man sich ganz intensiv mit einer Sache beschäftigt und alles andere ausblendet, ist es schwierig, deren ganzes Ausmass zu erfassen. Das war definitiv bei World Unseen der Fall. Wir wollten unsere Drucktechnologie nutzen, um zu zeigen, wie die bildende Kunst für blinde und sehbehinderte Menschen zugänglicher gemacht werden kann. Doch durch die Beziehungen, die wir dabei zu Dutzenden von Wohltätigkeitsorganisationen, Partner:innen, Fotograf:innen und Freund:innen geknüpft haben, wurde World Unseen für alle Beteiligten zu einer wahren Mission und Leidenschaft.

Ein Jahr ist seit dem Startschuss im Somerset House in London vergangen. Mittlerweile haben wir ein deutliches Bild von den Auswirkungen dieses Programms. Das sind auf der einen Seite die Zahlen: 33 Ausstellungen in ganz Europa, im Nahen Osten und in Afrika, die viele Tausende persönlich besuchten und Millionen von Menschen online erreichten. Auf der anderen Seite sind da aber auch weniger greifbare Aspekte, die mehr „im Moment“ liegen und dennoch enorm kraftvoll sind – Woche für Woche, Monat für Monat. Die Grundprinzipien von World Unseen sind in allen Ländern weitgehend unverändert geblieben: Wir nutzen unsere Reliefdruck-Technologie, um Bilder für alle zugänglich zu machen. Allerdings sind keine zwei Ausstellungen wirklich gleich gewesen. Jede wurde behutsam an die Besucher:innen, die Kultur und die nationalen Gegebenheiten angepasst.

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Die Zusammenarbeit mit Organisationen und Wohlfahrtsverbänden in der gesamten EMEA-Region war dabei von entscheidender Bedeutung. Sie halfen uns bei der Gestaltung von jedem einzelnen Aspekt. „Es gab so viele Elemente, die es zu verstehen und zu kombinieren galt. Natürlich war da erst einmal unser Reliefdruck. Aber es gab auch ein reichhaltiges Audioerlebnis, Beschreibungen in Blindenschrift, Sehsimulationen [sehende Besucher konnten Bilder mit einer Simulation verschiedener Arten von Sehbehinderungen erleben], die Navigation durch die Ausstellung – und unsere Website. Ausserdem mussten wir bedenken, wie unsere sehenden Führer:innen die Besucher:innen unterstützten“, erklärt Pete Morris, Brand & Sponsorship Senior Manager für Canon Europe. „Unsere Partner:innen haben uns so viel beigebracht. Ohne sie hätten wir das nie geschafft.“

Diese bemerkenswerten Wohltätigkeitsorganisationen stellten in den einzelnen Ländern auch die Verbindung zu den lokalen Sehbehindertengemeinschaften her. Damit wurde es möglich, dass so viele Menschen wie möglich die Gelegenheit hatten, Bilder buchstäblich zu erfassen. Einer der Besucher:innen bezeichnete das als etwas, „das für Sehende selbstverständlich ist“. Als Elif Bilyar und ihr Team von Canon Schweden den schwedischen Taubblindenverband in der berühmten Fotografiska Gallery in Stockholm willkommen hiessen, waren sie tief bewegt von der Beziehung zwischen den taubblinden Besucher:innen und ihren Führer:innen. Sie betrachteten jedes Bild Hand in Hand und verwendeten dabei eine Form der Zeichensprache, die auf Berührung beruht. „Es kostete die Führer:innen viel Energie, alles, was sie sahen und hörten, zu vermitteln“, erklärt sie. „Aber sie erkundeten jedes der Bilder mit solcher Begeisterung, und jede Geschichte wurde durch das Berühren der Hände vermittelt. Das hat uns mit grosser Dankbarkeit erfüllt.“

Ein Mann und eine Frau in eleganter Kleidung betrachten Bilder und Texte auf einem Sockel vor ihnen. Die linke Hand des Mannes ruht auf dem Sockel. Die Frau hat langes weisses Haar, das zu einem Zopf geflochten ist, und trägt eine dunkle Brille.

Die Technologie gibt uns die Möglichkeit, eine zugänglichere und integrativere Welt zu schaffen. Diese Initiative ist der beste Beweis dafür.“

7.000 Kilometer entfernt öffnete unser Team in Kenia am Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen die Türen. Parallel dazu entstand eine zweite Ausstellung, die jeden Tag Fotokurse für Blinde und Sehbehinderte abhielt und diese Arbeiten dann auch ausstellte. Die Atmosphäre in den Kenya National Library Services war elektrisierend. Die Gäste kamen in Feierlaune an, begierig darauf, die fotografischen Arbeiten der nationalen Künstler:innen Yagazie Emezi, Paras Chandaria und Peter Ndungu kennenzulernen und zum ersten Mal zu geniessen. Zum krönenden Abschluss überraschten die Schüler:innen alle mit einem Dankeslied in Suaheli.

Canon-Brand-Song

World Unseen wird bis heute in Nairobi fortgesetzt, da wir alle Exponate unserem Wohltätigkeitspartner, der Kenya Society for the Blind, gespendet haben. Die Ausstellung setzt sich aber auch in den Handlungen der Beteiligten fort. „Einer unserer Ausbilder:innen hat sein Unternehmen erweitert, um sicherzustellen, dass es mehr Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen gibt“, berichtet Munther Ayache von Canon North Africa. „Ich glaube, dass World Unseen die Denkweise und das Leben vieler verändert hat.“

Ein Land, das sich im Krieg befindet, ist vielleicht der letzte Ort, an dem man erwarten würde, dass World Unseen ihn erreicht. Der Geist von Kyosei und der Wunsch unserer ukrainischen Kolleg:innen, sich für Inklusivität, Einheit und Zugänglichkeit einzusetzen, war aber eine Quelle der Inspiration für uns alle. Im „Museum in the Dark“, in Lemberg werden die Führungen normalerweise in völliger Dunkelheit von blinden Führer:innen durchgeführt. Bei dieser Ausstellung blieb jedoch das Licht an, damit die sehenden Besucher:innen die unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Verlust des Augenlichts verstehen können. Lemberg war jedoch erst im November von Luftangriffen betroffen. Nur einen Monat später konnte erreicht werden, dass die Ausstellung in einer Galerie im Untergeschoss stattfand, die im Bedarfsfall auch als vorübergehender Schutzraum dienen könnte. Das Team passte die Ausstellung an diese aktuelle Realität an und fügte zwei Bilder von Canon-Ambassadorin Marta Sirko hinzu, die während des Krieges verletzte Ukrainer:innen zeigen. Eines zeigt einen jungen Soldaten, der ein Bein verloren hat, als griechische Skulptur dargestellt.

Ein Kind mit Pferdeschwanz berührt ein schwarz-weisses Bild der World Unseen-Ausstellung, das eine indigene Person in einem Wald zeigt.

Das hat mir das Gefühl gegeben, Augen zu haben und alles sehen zu können.“

Dies sind nur einige wenige der Dutzenden von Geschichten, die es zu erzählen gäbe. „Ich habe mit vielen Menschen aus der Gemeinschaft der Sehbehinderten gesprochen. Sie alle erzählten mir, dass sie Ausstellungen normalerweise nur mit ihren Familien besuchten, weil alles entweder hinter Glas ist oder sie Leute brauchten, die ihnen erklärten, was hier zu sehen ist. Sie fühlten sich frustriert, isoliert und im Stich gelassen“, erklärt Pete Morris. „Wir haben etwas geschaffen, das wirklich universell einsetzbar ist und das wir gerne zum Normalfall machen würden – nicht nur dort, wo wir unsere Ausstellungen abgehalten haben, sondern überall.“

In zwölf kurzen Monaten hat World Unseen Tausende von Kilometern zurückgelegt und Hunderte von Kolleg:innen, Wohlfahrtsverbänden, Druckdienstleister:innen und Unterstützer:innen mitgenommen. Am Anfang war es nur die zündende Idee, unsere Arizona-Drucker und die PRISMAelevate XL-Technologie zu nutzen, um ein Kunsterlebnis für diejenigen zu schaffen, die normalerweise am wenigsten Zugang dazu haben. Und wir glauben, dass wir genau das erreicht haben.

Was wir jedoch nicht erwartet hatten, war, dass World Unseen auch für etwas anderes stehen würde. Für etwas Grösseres.

Es wurde für uns und viele unserer sehenden Besucher:innen, Partner:innen und Kolleg:innen zu einer Möglichkeit, uns gemeinsam in die Lage anderer zu versetzen und zu erfahren, was es bedeutet, mit einer Sehbehinderung zu leben. Gemeinsam haben wir die unglaublichsten und inspirierendsten Menschen getroffen und das, was sie uns mitgeteilt und beigebracht haben, in unsere Herzen aufgenommen. Und, was am wichtigsten ist, sie hat uns alle zu Fürsprecher:innen gemacht, die den Wunsch haben, Barrierefreiheit in die Art und Weise zu integrieren, wie wir jetzt und in Zukunft kommunizieren.

Hier kann man die Storys von World Unseen entdecken.

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