Hat die menschliche Kreativität in der generativen Welt noch einen Wert?

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Eine helle weiss-blaue Illustration der Seitenansicht eines beleuchteten Gehirns vor einem dunklen Hintergrund.

Bevor wir beginnen, eine kleine Warnung: Die Welt der künstlichen Intelligenz entwickelt sich so rasant, dass alles, was Ihr im Folgenden lest, kurze Zeit später bereits veraltet, sein könnte. Aber das sollte uns natürlich nicht davon abhalten, in die Zukunft zu blicken und uns Gedanken über sie zu machen. Haben wir das nicht schon seit Jahrtausenden so gemacht? Durch Kunst, Philosophie, Wissenschaft, Geschichte und dergleichen mehr, suchen wir nach dem Sinn für unsere Einzigartigkeit und versuchen, diesen Sinn zu entschlüsseln.

In dieser Hinsicht scheint es richtig zu sein (und mehr als nur ein wenig ironisch), dass wir durch die generative KI angefangen haben, alles noch weitaus stärker zu hinterfragen. In zwei Artikeln werden wir einige Fragen stellen und vielleicht sogar einige Denkanstösse geben. Wir können die Zukunft immer noch nicht vorhersagen – das hat uns Menschen aber noch nie davon abgehalten, es zu versuchen.


Schliesslich lernen und trainieren wir ständig. Wir üben das Gelernte und überdenken es, kalkulieren und denken nochmal darüber nach. Alles im Streben nach Spitzenleistungen und manchmal auch nach Antworten. Bildende Kunst, Musik und Texte bewegen uns – positiv wie negativ – auf eine Art und Weise, die wir oft nicht verstehen. Die Psychologie kann uns da mitunter weiterhelfen. Damit gelingt uns das immer etwas besser. War es nicht schon immer so, dass wir durch unsere Fantasie in der Lage waren, unseren Lebensunterhalt durch Kreativität zu verdienen, für die wir gleichermassen geschätzt und bewundert werden? Diese Fähigkeiten sind das Ergebnis gelebter Erfahrung und der Wunsch – nein, die Notwendigkeit – unsere Ideen zu verwirklichen. Es ist daher also absolut verständlich, dass die generative KI auch skeptisch betrachtet wird. Obwohl sie in vielerlei Hinsicht spannende Möglichkeiten eröffnet, macht sie manchen Menschen auch Angst vor der Zukunft.

Man könnte hierfür zwei Gründe ausmachen:

Seit jeher gibt es eine unsichtbare Trennlinie zwischen den Bereichen „Kreativität“ (Design, Fotografie, Kunst usw.) und „Technik“ (Entwicklung, Analyse, Ingenieurwesen usw.). Bis vor kurzem liefen beide Bereiche eher getrennt voneinander und kreuzten sich nur dann, wenn es Projekte erforderten. Keiner hatte jedoch einen wirklich tiefen Einblick in die Disziplinen des jeweils anderen. In einer konstanten Flut von Beiträgen auf Social Media und Nachrichten werden die „erstaunlichen“ Möglichkeiten der KI erörtert. Dazu gehören neue Tools wie „Generative Füllung“ von Adobe Photoshop, aber auch Aussagen von Schriftsteller:innen, Illustrator:innen und Fotograf:innen, die ihrem Frust und Ärger Luft machen. So gut scheint das alles noch nicht zu sein.

Doch es wird auch viel experimentiert. Die vermeintliche Trennung zwischen Kreativität und Technik löst sich immer mehr auf. Hierbei entstehen zwei neue Lager: Experimentierfreudige und Skeptiker. Die Experimentierfreudigen haben viel Spass daran, jedes KI-Tool auszuprobieren, das ihnen in die Hände fällt. Sie sind von der Möglichkeit begeistert, jederzeit einen neuen treuen digitalen Assistenten herbeirufen zu können, der Zeit spart oder eine Aufgabe sogar besser erledigen kann als sie selbst. Die Skeptiker sind diejenigen, die KI mit Argwohn und einem kritischen Auge betrachten und sie als potenzielle Konkurrenz in den Bereichen Kunst, Literatur und Fotografie ansehen. Man muss sich nur die Debatten auf Plattformen wie LinkedIn ansehen, um zu erkennen, dass es sich um ein Thema handelt, das die Gemüter bewegt. Wer hat aber Recht? Hat überhaupt jemand Recht?

Ein Mann mit Jeans und weissem T-Shirt kniet auf einer Betonfläche voller Graffiti. Er hält eine Canon Kamera in der Hand und richtet sie auf den Boden.

Vom Pointillismus bis zum Punk – jede Kunstrichtung entwickelt sich durch das Festlegen von Regeln, um diese anschliessend genüsslich zu brechen.

„Lerne die Regeln wie ein Profi, damit du sie wie ein Künstler brechen kannst“.

Es spielt keine Rolle, ob Picasso das nun gesagt hat oder nicht. Auf jeden Fall stimmt es mit der Art und Weise überein, wie sein Stil seine Kunst unverwechelbar gemacht hat und der nun über eine KI problemlos nachgebildet werden kann. Und während wir Menschen im kreativen Akt nach denselben Parametern arbeiten wie eine künstliche Intelligenz (die Regeln der Ölmalerei, die Techniken der Fotografie, die Prinzipien von Grammatik und Syntax), nehmen wir auch auf, was um uns herum geschieht. Wir verschieben immer wieder bestehende Grenzen, indem wir Einflüsse aus Gesellschaft, Kultur, Politik, Technologie, Geografie, Wissenschaft und Dutzenden anderer Quellen nutzen, um uns weiter zu entwickeln. Und dann üben, üben, üben …

Vom Pointillismus bis zum Punk – jede Kunstrichtung entwickelt sich durch das Festlegen von Regeln, um diese anschliessend genüsslich zu brechen. Das ist genau das, was die KI derzeit noch nicht sinnvoll leisten kann. Schon gar nicht, ohne dass wir ihr hierfür Trainingsdaten zur Verfügung stellen oder die Aufforderungen, diese Daten in etwas Neues umzuwandeln. Es ist allerdings doch beunruhigend, wenn man bedenkt, dass alle unsere beliebtesten und historischen künstlerischen Errungenschaften jetzt möglicherweise „den Algorithmus füttern“. Bedeutet das, dass wir – ähnlich wie Picasso, der die Arbeit unzähliger anderer inspiriert hat – auf eine Welt blicken, in der Kreative dafür bezahlt werden, Regeln zu brechen und Grenzen zu überschreiten, um so letztendlich originelle Trainingsdaten für die KI zu schaffen, die sie dann vereinnahmen, nachahmen und in die Welt hinaustragen kann? Und wenn das „Original“ nicht lange eines bleibt, was bedeutet das für den langfristigen kommerziellen Wert?

Der Schmeichler-Effekt.

Natürlich kann das oben beschriebene Modell kleine Bereiche mit wirklich starker Kunst hervorbringen – oder uns fantastische neue Ideen vorenthalten. Aber wenn alles in den grossen Datentopf geworfen wird, ist es dann so, als würde man immer Braun erhalten, egal, welche Farben man mischt? Wir haben alle gesehen, was passiert, wenn plötzlich alle die gleichen Designstile verwenden (schon mal von Corporate Memphis gehört?). Die Wirkung ist flach, langweilig, uninspirierend und einfach nur ein schlechter Witz. Ist es das, was passieren wird, wenn der Einsatz von KI in Musik, Bild und Schrift allgegenwärtig wird? Und was passiert, wenn die KI anfängt, sich selbst abzunutzen, wie es in begrenztem Umfang bereits geschieht? Es gibt z.B. bereits viel kommerzielle Kunst und Designs, auf denen Magnolien abgebildet sind. Hier ist es nicht schwer ist, sich dieses Szenario vorzustellen. Wie soll man da noch hervorstechen? Werden wir auf jeder Seite des kreativen Prozesses „menschliche Betriebssysteme“ einsetzen, um die KI-generierte Arbeit in eine kreativere Richtung zu lenken? Können wir die Kunst so weniger langweilig machen und dem Werk mehr kulturelle Relevanz verleihen? Sind wir dann sowohl die Quelle als auch das Ziel – Urheber und Herausgeber –, während die KI die ganze Arbeit in der Mitte erledigt?

Der Versuch, eine solche Frage zu erörtern, erfordert Offenheit, ein gewisses Hin- und Herdenken und mehr als nur ein wenig Selbstreflektion, um einige der potenziellen Auswirkungen der generativen KI auf die Welt der Kreativität zu betrachten. Ihnen ist vielleicht aufgefallen, dass wir häufig „Kreative“ anstelle von „Fotograf:innen“, „Digitalkünstler:innen“, „Grafikdesigner:innen“ oder auch „Schriftsteller:innen“ verwenden. Das liegt ganz einfach daran, dass wir uns zwar spezialisieren, aber oft, um unsere künstlerischen Ziele zu erreichen, die verschiedenen Fachrichtungen überschreiten. Und in dieser Hinsicht haben wir mehr mit der KI gemeinsam, als wir vielleicht zugeben wollen.

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