Teens, TikTok und die neue Einstellung zur Wahrheit

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Ein Mädchen im Teenageralter mit langen, dunklen Afro-Haaren und einem Wintermantel sitzt im Bus und schaut auf ihr Handy.

Merken Sie im Gespräch mit Freund:innen oder Kolleg:innen, wenn Geschichten ein wenig ausgeschmückt werden? Oder sie sogar etwas erzählen, das schlichtweg nicht stimmt? Die meisten Menschen glauben tatsächlich, dass sie eine Lüge erkennen können. Ironischerweise ist das aber in der Realität sehr schwer. Wir sind überhaupt nicht gut darin. Das ist zumindest einer der Gründe, warum uns Online-Fehlinformationen, sogenannte „Fake News“, so viele Sorgen bereiten. Es gibt eine Flut an Instrumenten, die sie verbreiten – und es auch tun.

Natürlich ist das Bestreben, mit irreführenden Informationen zu manipulieren, nicht neu. Im Laufe der Geschichte gab es dafür diverse Beispiele. Erzählen wir uns nicht auch gern Klatsch und Tratsch seit … naja, seit es Menschen gibt. Wenn es um die Wahrheit geht, befinden wir uns allerdings heutzutage an einer heiklen und beunruhigenden Schnittstelle. Erstens stehen uns mehr Informationsplattformen als je zuvor zur Verfügung. Innerhalb dieser Plattformen gibt es wiederum Millionen von „Kanälen“, aus denen wir wählen können. Zweitens „senden“ sie in Echtzeit. Man hat sie immer dabei und ständig zur Hand. Und schliesslich (und das ist am besorgniserregendsten) sind die meisten dieser Plattformen und Kanäle nicht reguliert, so dass jeder praktisch alles sagen kann. Das hängt natürlich davon ab, wo sie es sagen.

Das ist für uns alle problematisch. Besonders betroffen sind aber junge Menschen: Deren Gehirn ist einer Flut von digitalen Informationen ausgesetzt, während sich ihr präfrontaler Kortex noch in der Entwicklung befindet. Dies ist der Teil des Gehirns, der für das kritische Denken und die Entscheidungsfindung zuständig ist. Daher ist es nur verständlich, dass sie für sensationslüsterne oder emotionsgeladene Inhalte empfänglicher sein können. Und solche Inhalte dann auch noch gern teilen.

Die Studierenden der Global Academy in West London gehören zu den medienaffinsten Teenagern, die es gibt. Beim allem, was sie auf Social Media sehen, führen sie permanent einen Faktencheck durch. Sie berichten, dass sie etablierte Sender wie die BBC als Wahrheitsquellen nutzen, während sie sich auf TikTok und Instagram über die Meinungen von Gleichaltrigen und Influencern informieren. „Es gibt Quellen auf TikTok, die sich mit Geschichte befassen und sie aus verschiedenen Blickwinkeln beschreiben. Ich glaube, das hat einen ziemlich grossen Einfluss“, sagt die 17-jährige Liberty. Ihre Kommilitonin Sophie stimmt ihr zu. „Wenn man sich die Kommentare und die vielen verschiedenen Meinungen durchliest, verändert sich auch die eigene. Es bringt einen dazu, darüber nachzudenken, was man eigentlich selbst glaubt.“

Ein Junge im Teenageralter mit Brille und weissem Kapuzenpulli liegt auf dem Bauch auf seinem Bett und hat seinen Laptop vor sich. Er schaut auf sein Handy, das er in beiden Händen hält.

Für sie ist das der Punkt, an dem TikTok schwierig werden kann. Sie glauben, dass zumindest einige ihrer Lieblings-Influencer sich mit Themen beschäftigen, über die sie nur wenig wissen – es nicht zu tun, würde aber ihrer Marke schaden. Und das bedeutet, dass sie dazu neigen, sich der Online-Mehrheit anzuschliessen. Damit können sie aber eine grosse Anzahl von Followern zu Meinungen bewegen, die möglicherweise nicht auf der Wahrheit beruhen. Liberty und Sophie sind von ihrer eigenen Medienkompetenz überzeugt. Sie glauben aber nicht, dass die „jüngere Generation“ diese grundsätzlich besitzt. Die Jüngsten im Alter von sechs bis zehn Jahren konsumieren heutzutage routinemässig Kanäle, die ihnen in demselben Alter nicht zur Verfügung standen. Vor allem YouTube ist ihrer Meinung nach die Plattform der Wahl für Kinder – ganz sicher aber nicht für diese Altersgruppe bestimmt. „Handys sind doch das neue Spielzeug, nicht wahr?“, sagt Jessica, 17 Jahre alt. „In dem Alter hat jeder dieses eine Spielzeug, das man haben muss – und jeder will es haben. Heutzutage sind das eben Handys.“

Die Gefahr geht hier von dem klassischsten Instrument der Fehlinformation aus: charismatische Darsteller:innen. Das sind berühmte Influencer – teilweise mit Millionen von Followern –, die fragwürdige bis höchst problematische Positionen vertreten. „Ich habe einen jüngeren Cousin, der [eine männliche Persönlichkeit auf Social Media, die für ihre kontroversen Ansichten bekannt ist] folgt“, fügt Sophie hinzu. „Er nimmt all diese Informationen auf, glaubt an sie und sie beeinflussen sein tägliches Leben.“ Es ist jedoch wahrscheinlich, dass ein derartiger Einfluss auf sein Leben nicht nur durch das Ansehen eines Videos dieses einzelnen Content Creators entstanden ist. YouTube, TikTok, Instagram und so ziemlich alle anderen Social-Media-Plattformen nutzen Algorithmen, die auswerten, was wir mögen und häufig anschauen, um uns immer mehr davon zu bieten. Das führt zu dem gefährlichen „Echokammereffekt“: Mit jeder weiteren Stimme, die das vorher Gesagte bestätigt und unterstützt, wird der Eindruck vermittelt, dass es sich um die Wahrheit handelt.

Das führt aber auch zu einer Art algorithmusgesteuertem Gruppendenken. Eine grosse Zahl von Menschen schliesst sich einer Kernidee an, ohne deren Wahrheitsgehalt zu hinterfragen. Es gibt viele solcher Gruppen im Internet. Die Zahl ihrer Mitglieder ist oft überwältigend. Und dabei haben die meisten gar nicht das Bewusstsein, ein solches „Mitglied“ zu sein. Ein gutes Beispiel ist hier, wie die „Cancel Culture“ in unser Verständnis eingedrungen ist. Wo immer sie zu finden ist, steckt ein Gruppendenken dahinter.

Wer kennt einen also wirklich? Alle Schüler:innen antworten überraschenderweise spontan mit „meine Mutter“.

„Cancel Culture“ und „Public Shaming“ spielen im Alltag von Jugendlichen eine enorme Rolle. Es ist nicht untertrieben, wenn man sagt, dass sie in Angst davor leben, online falsch dargestellt zu werden. Heutzutage geht es ja nicht nur darum, das etwas aus dem Zusammenhang gerissen wird. Liberty erklärt: „Ich habe das Gefühl, dass unsere Generation sehr viel bewusster ist. Wir posten nichts Unangemessenes – wir wissen, worüber wir reden können und was wir besser nicht öffentlich machen. Aber jetzt kommt noch die KI hinzu. Selbst wenn wir etwas gar nicht selbst täten, könnte es jemand einfach nachmachen, ein sogenannter „Deep Fake‘.“ Das dringt dann sogar in die Bereiche ein, die als privat gelten sollten: Wenn Jugendliche zusammen sind und einfach das tun, was junge Leute tun. „Wir scherzen nicht einmal mit unseren Freunden in einem Gruppenchat über [unerhörte] Dinge. Keiner von uns tut das“, fährt sie fort. „Und [falls] ich einfach nur einen schlechten Tag habe und mit dem, was du sagst, nicht einverstanden bin, kannst du einen Screenshot davon machen.“

All das und noch mehr trägt dazu bei, dass Jugendliche immer das Gefühl haben, bei allem, was sie sagen und tun, auf der Hut sein zu müssen. „Man muss sich einfach bewusst sein, dass alles, was man sagt und tut, permanent von jemandem aufgezeichnet wird“, fügt sie hinzu. „Du könntest beispielsweise im Zug etwas Dummes tun, stolpern, etwas zur falschen Person sagen und dabei aufgenommen werden. Im Nu hat es sich verbreitet. Zu jedem Zeitpunkt nimmt irgendwer etwas auf.“ Diese jungen Leute wissen genau, dass es kaum einen Moment gibt, an dem sie nicht unter Beobachtung stehen. Deshalb gehen sie ganz bewusst nur mit ihrer öffentlichen Fassade durchs Leben. Wer kennt einen also wirklich? Alle Schüler:innen antworten überraschenderweise spontan mit „meine Mutter“. „Ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn ich nicht jemanden hätte, dem ich alles vorbehaltlos erzählen könnte“, fügt Liberty hinzu. „Wahrscheinlich brauchen alle eine Therapie, weil sich niemand mehr jemandem mitteilen will.“

Und sie wissen genau, dass sie sich glücklich schätzen können, ein starkes Netz von Eltern, Grosseltern und Ausbildenden um sich zu haben. Die prüfen ihre Ideen, bieten ihnen eine solide und seriöse Informationsquelle und geben ihnen den Raum, in dem sie sich öffnen und sie selbst sein können – ohne Angst vor negativen Konsequenzen. Aber das ist ein zweischneidiges Schwert. Auch wenn die Eltern die notwendige psychologische Sicherheit bieten, sollten und müssen Teenager in der Lage sein, eine unabhängige Identität in der Welt und ein authentisches Selbstgefühl zu entwickeln.

„Ich habe das Gefühl, dass die Technologie viel zu schnell voranschreitet und es immer schwieriger wird, dem zu vertrauen, was man online sieht“, beklagt Sophie. „Das ist wirklich gefährlich“, sagt Liberty. „Wir wollen nicht in einer Gesellschaft aufwachsen, in der jeder glaubt, dass alles ‚Fake‘ ist. Es kann doch nicht sein, dass wir immer erst recherchieren müssen, um zu wissen, dass etwas echt ist.“ Sie alle sind zutiefst besorgt über KI-generierte Inhalte – vor allem darüber, dass sie ihnen zum Opfer fallen. Aber auch gefälschte medizinische Inhalte und falsche Werbung macht ihnen Angst. Aber sie scheinen auch zu akzeptieren, dass sie kaum etwas dagegen tun können. Es bleibt ihnen nur die Haltung, dass alles „Fake“ ist, bis das Gegenteil bewiesen ist – zumindest solange, bis irgendeine Art von Regelung in Kraft tritt. Bei diesen älteren Teenagern ist dieses Verhalten bereits tief verwurzelt. Obwohl sie das Glück haben, in der Global Academy Zugang zu hervorragenden Ressourcen und Expertenstimmen zu haben, geben sie zu, dass sie gelegentlich überrumpelt werden. Das geht uns ja allen so.

Aber es gibt auch Hoffnungsschimmer. Organisationen wie das News Literacy Project (NLP), und Content Creator wie Sophia Smith Galer, Abbie Richards, Mariana Spring und viele andere, setzen sich dafür ein, über Fehlinformationen im Internet aufzuklären, falsche Behauptungen zu entlarven und das Bewusstsein für das Ausmass des Problems zu schärfen. Dan Evons von NLP bot im Dezember 2023 mit Speaking to CBS News (im Gespräch mit dem CBS-Nachrichtensender) im Dezember 2023 einen spannenden neuen Ansatz:

„Immer mit der Ruhe. Achten Sie auf Authentizität, suchen Sie nach der Quelle, nach Beweisen, nach Argumenten und erkennen Sie den Kontext.“

Und wenn die Nachricht nicht einmal der kleinsten Prüfung standhält? Melden Sie sie. Aber teilen Sie sie auf keinen Fall.

Vielen Dank an die Studierenden und Mitarbeitenden der Global Academy.

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