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James Nachtwey enthüllt die Geschichten hinter seinen auffälligsten Aufnahmen
Der gefeierte Fotograf James Nachtwey bespricht die historischen Momente, die er mit seiner Kamera festgehalten hat.
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Die ergreifend schönen Hochglanzfotos von James Nachtwey werden weltweit bewundert. Doch besteht dabei ein ethisches Risiko, das Leid von Menschen zu romantisieren?
Bei der Eröffnung von James Retrospektive im Königlichen Palast von Mailand lud der Kurator Roberto Koch acht Fotojournalisten aus Europa zum Gespräch über diese Frage ein. Widerspricht Schönheit in Reportagen über Konflikte der angestrebten Botschaft, oder profitiert die Dokumentarfotografie von schönen Aufnahmen? Gibt es weitreichendere Risiken oder Vorteile, wenn man den Menschen verschiedene Perspektiven auf Kriegsschauplätze bietet?
Zu den Diskussionsteilnehmern gehörten die Canon Botschafter Daniel Etter, Ilvy Njiokiktjien, Magnus Wennman und Paolo Pellegrin sowie die ehemaligen Canon Botschafter Carolina Arantes, Mashid Mohadjerin, Simona Ghizzoni und Alvaro Ybarra Zavala.
Roberto Koch: Habt ihr das Gefühl, dass die Ästhetisierung von Kriegsfotografie und Dokumentationsfotografie problematisch ist? Oder ist es hilfreich, bestimmte Probleme für den Betrachter akzeptabler darzustellen? Und dies hat Auswirkungen auf eure Arbeit?
Ilvy Njiokiktjien: Tatsächlich hatte ich zu Beginn des Jahres so eine Situation, als ich das Porträt einer Flüchtlingsfamilie in Südsudan aufnahm. Für die Aufnahme verwendete ich zusätzliche Beleuchtung. So wirkte die Aufnahme irgendwie glanzvoll und prächtig. Das war nicht beabsichtigt – ich machte einfach ein Foto der ganzen Familie –, doch es löste eine grosse Diskussion in den Niederlanden aus, da es auf der Titelseite der wichtigsten nationalen Zeitung erschien. Die Leute meinten, das Foto sei zu hoch ästhetisiert, um die entsetzliche Lage im Südsudan angemessen widerzuspiegeln.
Zwar habe ich versucht, mich an dieser Diskussion zu beteiligen, doch ich verstand das Hauptproblem nicht. Meiner Meinung nach hat dieses Foto viele Menschen erreicht. Es war zudem Teil einer Serie von Bildern, die sehr wohl die Situation in Südsudan zeigten.
Mashid Mohadjerin: Ich glaube, das Problem liegt in der Erwartung des Betrachters, dass Elend erschreckend und furchtbar dargestellt werden müsse. Doch auch in den einsamsten und verzweifeltsten Situationen gibt es so viel Schönheit. Die Schönheit ist vorhanden – wir inszenieren sie nicht. Aber die Menschen sehen in der gemeinsamen Darstellung von Schönheit und Krieg einen Widerspruch, den sie nicht immer akzeptieren. Das ist schwierig, denn manchmal erwische ich mich selbst dabei, nach einer schrecklicheren Situation als der, der ich mich gegenübersehe, zu suchen. Dabei ist es nicht sinnvoll, die Situation schlimmer aussehen lassen zu wollen, als sie tatsächlich ist.
Paolo Pellegrin: Ich glaube, in der künstlerischen Tradition des Westens ist Schönheit die erste Schicht. Wir sehen die Schönheit von Dingen, deshalb verbindet uns Schönheit mit den Motiven. Form, Gestalt und Komposition sind die Werkzeuge, mit denen wir Fotografen versuchen, Bedeutung zu vermitteln. Daher denke ich, dass die Suche nach der bestmöglichen Aufnahme nicht nur den Fotografen auszeichnet, sondern dadurch auch dem Motiv Anerkennung gezollt wird. Ich fühle mich immer etwas unsicher und beunruhigt, wenn ich den Vorwurf höre: „Es ist zu schön.“ Zu schön im Vergleich womit?
Mashid hat auch etwas Wichtiges gesagt. Eines der Geheimnisse des Lebens ist, dass Tragödien auch Schönheit innewohnt. Es geht dabei nicht nur um eine Sache. Schönheit kann in einer mutigen Handlung liegen – wenn man merkt, dass der menschliche Geist versucht, sich aus einer Lage zu befreien. Die sogenannten schönen Bilder sind für mich niemals anstössig. Ich denke mir dabei einfach: „Der Fotograf hat sich bemüht, ein Bild aufzunehmen, das wertvoll ist.“
Ilvy Njiokiktjien: Ja, es ist zu einfach gedacht, wenn man meint, dass ein hässliches Bild oder ein schnell aufgenommenes Bild mit schlechter Komposition ein ehrlicheres Bild sei.
Alvaro Ybarra Zavala: Ich glaube, dass Schönheit eine grossartige Möglichkeit ist, Stigmata und Vorurteilen entgegenzuwirken, zum Beispiel der Islamfeindlichkeit. Fotos können die schönen Seiten stigmatisierter Themen aufzeigen.
Roberto Koch: Ich denke nicht, dass Fotografen diese Debatte über die Schönheit angestossen haben. Ich habe noch nie gehört, dass ein Fotograf die Tatsache anzweifelt, dass ein schönes Foto auch ein gutes Foto sein kann. Diese Debatte stammt aus der Welt der Kunstkritik.
Mashid Mohadjerin: Das ist auch das Problem bei Bildern, die an bestimmten Orten entstehen. Zum Beispiel machen Fotografen immer noch stereotype Aufnahmen, die zu dem Irrglauben beitragen, dass der ganze Kontinent Afrika von Hunger und Krieg zerrüttet ist. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die andere Seite von bestimmten Orten zeigen können, z. B. Ländern im Nahen Osten oder in Afrika – vielleicht die glückliche Seite, vielleicht andere Ereignisse –, statt nur die traurige Seite zu zeigen.
Ilvy Njiokiktjien: Das beruht auf einer kolonialistischen Denkweise. Damals reisten Fotografen aus den USA oder Europa an weit entlegene exotische Orte, um Bilder zu machen, die das Publikum zu Hause erschrecken sollten. Ich glaube leider, dass wir noch immer ein wenig diese Sichtweise vertreten, wenn wir bestimmte Orte besuchen. Wir reisen nach Sudan oder Somalia und meinen, unser „Vorwissen“ über diese Orte zeigen zu müssen.
Daniel Etter: Ja, am Ende werden die Stereotype verstärkt. Aber ich glaube, dass lokale Fotografen dem zum Glück entgegenwirken.
Ilvy Njiokiktjien: Ja, aber wird deren Arbeit häufig ausgestellt?
Daniel Etter: Sie wird nicht oft genug gezeigt, aber sie ist vorhanden.
Paolo Pellegrin: Dennoch müssen wir auch die Neuigkeiten zeigen. Ich meine, es geschehen derzeit furchtbare Dinge in Südsudan – also sollen wir nicht dorthin reisen, um das zu zeigen? Das Wichtigste ist, respektvoll zu sein – und ich denke, das erfüllen wir unter anderem, indem wir die Schönheit zeigen.
Roberto Koch: Versuchen einige von euch, erschütternde Aufnahmen zu machen, damit eure Geschichten eine stärkere Wirkung entfalten?
Magnus Wennman: Nein, erschütternd nicht. Ich meine, wenn man eine Geschichte erzählt, muss man den besten Weg finden, sie den Betrachtern verständlich zu machen und ihre Herzen zu berühren. Dazu ist kein erschütterndes Bildmaterial erforderlich – das lässt sich auch mit Mitgefühl und Respekt erreichen, indem man Menschen Bilder zeigt, zu denen sie eine Verbindung aufbauen und die sie verstehen können. Ein sehr ruhiges Bild kann erschütternd wirken, wenn man eine Verbindung dazu aufbaut.
Paolo Pellegrin: Wenn ich an die Geschichte der Konfliktfotografie denke, sind es nicht visuell schockierende Bilder, die die grösste Wirkung erzielen. Es sind gerade die Bilder, die auf ruhigere Art und Weise ihre Geschichte erzählen, zu denen die Betrachter eine emotionale Verbindung aufbauen. Blut funktioniert da nicht. Wenn man es sieht, ist man zwar schockiert, doch dabei bleibt es, denke ich. Die zwischenmenschliche Beziehung ist immer wirkungsvoller.
Carolina Arantes: Ich glaube, das ist eine heikle Frage. Ich zum Beispiel finde die Bilder von James Nachtwey sehr erschreckend.
Paolo Pellegrin: Tatsächlich?
Carolina Arantes: Sie sind sehr kraftvoll und manchmal schmerzt es, sie zu betrachten. Aber ich glaube, der ethische Standpunkt hinter den Bildern mildert den Schreck in gewisser Weise. Zum Beispiel hat mich die Aufnahme des Bodyguards, der den syrischen Jungen in Griechenland rettet, wirklich erschreckt. Doch sie ist auch äusserst poetisch und zeigt eine ethische Haltung. Ob schön oder nicht, erschreckend oder nicht – die Frage, die ich mir stelle, ist: Funktionieren diese Bilder wirklich? Wie kann Fotografie in der derzeitigen, schwierigen Weltlage wirkungsvoll sein?
Roberto Koch: Und hast du eine Antwort auf diese Frage?
Carolina Arantes: Nein, habe ich nicht.
Simona Ghizzoni: Dann möchte ich die Frage an dich zurückgeben, Roberto: Was ist deine Meinung als Kurator der Ausstellung von Nachtwey?
Roberto Koch: Ich glaube, der entscheidende Punkt ist, dass sich die Arbeit von James durch seine ethische Geisteshaltung auszeichnet. In diesem Sinne ist seine Arbeit ein gutes Beispiel dafür, wie ein einzelnes Bild dafür sorgen kann, dass Menschen Fragen stellen. Ich fand schon immer, dass ein gutes Foto Fragen aufwerfen sollte, statt sie zu beantworten – denn eine Antwort gibt es nie.
Daniel Etter: Ich glaube, die wahre Schönheit der Fotografie liegt in ihrer Unvollendetheit. Du präsentierst deine Gedanken, deine Ideen und deine emotionalen Reaktionen. Doch jedes Mal wird die Story erst durch den Blick des Betrachters vollendet. Daher existiert ein Bild nur dann wirklich, wenn es gesehen wird. Und jedes Mal wird es auf andere Weise wahrgenommen. Für mich ist das ein schöner Gedanke, denn das bedeutet, dass es nicht nur um dich und das Motiv geht. Es geht auch um eine unbekannte Variable – den Betrachter – die zum Augenblick der Schöpfung gehört.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass diese Fotografien Dokumente sind. Die schockierenden wie die weniger schockierenden, die ruhigen, die bunten, die schwarzweissen – diese Dokumente dienen dazu, uns an die Vergangenheit zu erinnern, doch auch dazu, unserer Verantwortung Rechnung zu tragen. Meiner Meinung nach ist dies letztlich der wichtigste Faktor. Die Formen und die Art und Weise können abweichen, doch im Kern ist die Dokumentarfotografie ein Beleg für das, was wir einander antun. Und ich denke, es bedeutet unheimlich viel, an der Entstehung dieser Dokumente beteiligt zu sein.
Alvaro Ybarra Zavala: Ich glaube, die Stärke von Nachtweys Arbeit liegt darin, dass Fragen darüber aufgeworfen werden, wer wir sind, wie wir uns als Spezies verhalten und weshalb wir seit Generationen immer wieder dieselben Fehler machen.
Roberto Koch: Glaubt ihr, ein gutes Foto kann als gut definiert werden, weil es notwendig ist? Kann es wirkungsvoll sein, da es uns beim Begreifen hilft und weil keine andere Art von Dokument – und keine andere Art des bildlichen Ausdrucks – dieselbe Wirkung entfaltet wie dieses eine Foto?
Alvaro Ybarra Zavala: Ganz genau. Stellt euch eine Welt ohne Fotografen vor. Zwar werfen Aufnahmen an einem Ort, an dem man ein Fremder, ein Aussenseiter ist, ethische Fragen auf [da man das Risiko eingeht, seine Vorurteile über einen Ort auf seine Fotografien zu übertragen], doch es lohnt sich immer, den Aufwand für diese Dokumente auf sich zu nehmen. Andernfalls würden wir alle im Unklaren gelassen, und das wäre äusserst gefährlich.
Mehr über die Canon-Botschafter erfahren Sie auf den Seiten des Botschafter-Programms von Canon Europa.
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