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„Ich glaube an die Macht der Informationen": James Nachtwey im Gespräch mit Hilary Roberts

A young Hutu man's profile reveals several long, deep scars across his scalp and face in Rwanda.
Ein Überlebender eines Hutu-Todeslagers posiert für James auf dem Höhepunkt der ruandischen Konflikte (1994). © James Nachtwey / Contrasto

Als Held des Fotojournalismus hat James Nachtwey über mehr als vier Jahrzehnte hinweg Konflikte, Katastrophen und Krankheiten auf der ganzen Welt dokumentiert.

Nachtwey wurde 1948 in New York geboren und ist einer der angesehensten Dokumentarreporter der Branche. Nachdem er sich selbst die Kunst der Fotografie beigebracht hatte, arbeitete er als Freiberufler für das Time Magazine, bevor er 1976 seinen ersten Job beim Albuquerque Journal in New Mexico annahm. Seitdem haben seine Arbeiten andere schockiert, in Erstaunen versetzt und inspiriert.

Anlässlich der Veröffentlichung von „Memoria“, seiner weltweit wandernden Retrospektive, die in Mailand startete, sprach Nachtwey ausführlich mit Hilary Roberts, Canon Botschafterin und Kuratorin für Fotografie des London Imperial War Museum. Sie sprachen über seine ersten Schritte in der Fotografie, ob Bilder einen Unterschied machen können und über die emotionale Wirkung, die weltweite Tragödien auf ihre Beobachter haben. Er teilt seine Erfahrungen in der Berichterstattung über rumänische Waisenhäuser, den Völkermord in Ruanda, den 11. September und die europäische Flüchtlingskrise und offenbart seine Gedanken über den aktuellen Stand der Fotojournalismus-Branche.


Hilary Roberts: Das Plakat für Ihre Ausstellung „Memoria“ zeigt den Kopf eines jungen Hutu in Ruanda (oben). Er hat schwere Narben und ist eindeutig traumatisiert. Es ist ein Bild, das keine Bildunterschrift braucht, da es eindeutig die Unmenschlichkeit von Menschen gegenüber anderen Menschen demonstriert. Ich glaube, das war nur eines von vielen schrecklichen Dingen, die Sie in Ruanda gesehen haben, aber hat dies eine besondere Bedeutung für Sie?

James Nachtwey: Sehr viel. Er wurde gerade aus einem Hutu-Konzentrationslager befreit, in dem Menschen gefoltert und getötet wurden, und die Überlebenden wurden in rudimentäre medizinische Stationen gebracht. Ich war dort und fotografierte, als er kam. Er konnte nicht sprechen, und ich beherrschte seine Sprache ohnehin nicht, aber ich schaute ihm in die Augen und habe über Körpersprache gefragt, ob ich ihn fotografieren könnte. Er hat implizit zugestimmt und drehte an einem Punkt sogar sein Gesicht zum Licht. Genau in dem Augenblick habe ich die Aufnahme gemacht. Ich glaube, dass er verstanden hat, was seine Narben dem Rest der Welt sagen würden. Ich denke, dass er zu diesem Zeitpunkt mich als seinen Botschafter ausgewählt hat.

Beachten Sie bitte, dass die Audio-Inhalte nur in englischer Sprache zur Verfügung stehen.

Sie erregten meine Aufmerksamkeit, als Sie 1981 über die Hungerstreiks in Nordirland berichteten, haben aber zuvor als Pressefotograf in den Vereinigten Staaten gearbeitet. Wie sind Sie zur Fotografie gekommen?

In meiner Jugend wies nichts darauf hin, dass ich Interesse oder Begabung für Fotografie hätte. Dazu habe ich mich erst nach meinem Studium entschlossen. Ich wurde von den Fotografien aus dem Vietnamkrieg und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung inspiriert. Diese Bilder hatten eine grosse Wirkung auf mich persönlich und änderten meine Meinung über das, was in der Realität geschah. Unsere Politiker und militärischen Anführer sagten uns eines, die Fotografen erzählten uns etwas anderes – sie sagten uns, was wirklich passiert.

Sie haben sich selbst die Fotografie beigebracht – wie?

Ich hatte nicht genug Geld, um eine Fotografieschule zu besuchen. Ich fing an, Bilder mit einer geliehenen Kamera zu fotografieren. Ich las Bücher darüber, wie man Film belichtet und entwickelt und wie man Drucke herstellt – ich mietete mir Platz in einer Dunkelkammer, um zu üben. Wo immer ich war, stellte ich mir vor, ich hätte einen Auftrag von einer Zeitschrift. Ich zog auf eigene Faust los und versuchte, Bilder zu machen, die ich einem Redakteur zeigen könnte. Im Laufe der Jahre stellte ich ein Portfolio zusammen und brachte es schliesslich zur Niederlassung des Time Magazine in Boston. Ihnen gefiel, was sie sahen, und sie begannen, mir Aufträge zu geben.

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Ein paar Jahre danach konnte ich mir meinen Lebensunterhalt damit verdienen, aber ich entschied, dass die Aufträge mir nicht ausreichten. Ich dachte, dass ich mit der Arbeit für eine Zeitung eine intensivere tägliche Erfahrung erhalten würde. Ich habe mich bei Zeitungen in Teilen von Amerika beworben, die ich noch nicht kannte. Ich bekam ein Stellenangebot vom Albuquerque Journal in New Mexico, also stieg ich in ein Flugzeug und flog dorthin. Ich habe vier Jahre damit verbracht, das Handwerk des Fotojournalismus zu erlernen, und machte dabei jeden Fehler, den man kennt, und habe sogar einige eigene erfunden. Daraus zog ich langsam Erfahrung und Selbstvertrauen. Ein paar der festangestellten Fotografen der Zeitschrift waren sehr gut und haben mich unter ihre Fittiche genommen.

Nach vier Jahren bei der Zeitung wachte ich mitten in der Nacht auf und erkannte, dass ich alles gelernt hatte, was ich bei dieser Erfahrung lernen konnte. Es war also an der Zeit, weiterzuziehen. Am nächsten Tag kündigte ich meine Stelle, belud meinen VW Käfer und fuhr nach New York. Dort begann ich eine freiberufliche Karriere. Ich arbeitete für die Fotoagentur Black Star. Sie wurde von einem fantastischen Mann namens Howard Chapnick geleitet – ein Gelehrter und Gentleman und ein echter Anhänger der Fotografie. Er unterstützte mich so sehr, dass ich ihm, als der Hungerstreik und Aufruhr auf den Strassen von Belfast und Derry ausbrach, sagte: „Ich möchte dorthin gehen.“ Ich hatte keinen Auftrag. Ich sprang einfach in ein Flugzeug und legte los.

Palestinians throw flaming molotovs at Israeli soldiers in the West Bank in 2000.
Während der zweiten palästinensischen Intifada war die Gewalt auf beiden Seiten sehr heftig. Demonstranten warfen Brandsätze auf Soldaten, die mit echter Munition und Gummikugeln schossen, oft mit tödlichen Folgen. Aufgenommen in Ramallah (Westjordanland) im Jahr 2000. © James Nachtwey / Contrasto

Glauben Sie, dass es für junge Fotografen wichtig ist, Risiken einzugehen, um ihre Karriere heute ins Laufen zu bringen?

Man geht Risiken ein, um loszulegen, und man geht Risiken auf jedem Schritt des Weges ein, solange man Fotograf ist. Aber man sollte niemals leichtsinnig sein, denn die Folgen können sehr schwerwiegend sein – über das blosse Scheitern hinaus. Wenn Ihre Bilder von der Öffentlichkeit gesehen werden, müssen Sie sicherstellen, dass Sie Ihr Bestes geben, um die Geschichte richtig zu erzählen. Wir erleben Geschichte in Echtzeit. Wir wissen nicht, was das alles bedeutet. Deshalb fotografieren wir es. [Aber] wir müssen unsere Instinkte und unser Wissen über die Vergangenheit nutzen, um zu versuchen, ein Bild zu erstellen, das eine Art Wahrheit in sich trägt.

Gehen Sie Risiken auf jedem Schritt des Weges ein, ... aber seien Sie niemals leichtsinnig.

Empfinden Sie die Bezeichnung „Kriegsfotograf“ als Vorteil oder Hindernis? Einige Fotografen finden, dass es die Wahrnehmung ihrer Arbeit ungerechtfertigt einschränkt.

Ich glaube nicht, dass das so wichtig ist. Es ist nur ein Zeichen der Bequemlichkeit. Porträtfotografen werden Porträtfotografen genannt, und Landschaftsfotografen werden Landschaftsfotografen genannt, obwohl sie im Kern so viel mehr tun als das.

A newborn infant tightly swaddled in subtly patterned cloth. Photograph by Lieve Blancquaert.

Circle of Life: Die Meilensteine des Lebens durch ein Objektiv

Lieve Blancquaert zeigt, wie sie weltweit mit nur einem Objektiv, dem Canon EF 24mm f/1.4L II USM, Geburt, Hochzeit und Tod dokumentierte.

Neben der Konfliktfotografie zählen soziale Dokumentationen zu Ihren Arbeitsbereichen, ist das richtig?

Ja. Ich begann, mich auf Krieg und Konflikt zu konzentrieren, und machte zehn Jahre lang fast ausschliesslich solche Arbeiten. Ich reiste vom Krieg zum Krieg auf der ganzen Welt. Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des osteuropäischen Blocks war ich neugierig auf Rumänien, da es das am wenigsten zugängliche aller osteuropäischen Länder war. Plötzlich war es offen. Ich ging einfach dorthin, ohne Auftrag. Ich hatte gehört, dass es diese Waisenhäuser im ganzen Land gab, aber niemand konnte mir sagen, wo. Ich fand einen Dolmetscher, mietete ein Auto, fuhr auf der Suche nach ihnen umher und entdeckte einen Gulag für Kinder.

Es war eine andere Art von Gewalt als die, die ich in Kriegen erlebt hatte. Es war staatliche sanktionierte, institutionalisierte Grausamkeit gegenüber völlig unschuldigen Menschen, und das hat mich wirklich schockiert. Ich verbrachte mehrere Wochen damit, dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu dokumentieren. Ich glaube, dass sich mein Schwerpunkt dadurch erweitert hat. Ich erkannte den Wert des Fotografierens kritischer sozialer Themen und Ungerechtigkeiten, die danach schrien, beseitigt zu werden, aber erst noch offenbart werden mussten. In den nächsten zehn Jahren arbeitete ich an einem Projekt, das zum Buch „Inferno“ wurde.

A famine victim in Sudan lies huddled on the ground in a feeding centre, shrouded in a blanket with one eye looking out, waiting to be given water from a bowl.
Nachtwey verbrachte mehr als drei Jahrzehnte damit, menschliche Katastrophen auf der ganzen Welt zu fotografieren, einschliesslich der Hungersnot in Darfur (Sudan) in den 1990er Jahren. Hier ist ein Hungeropfer in einem Ernährungszentrum zu schwach, um das Wasser zu trinken, das in Griffreichweite liegt, und muss auf Hilfe warten. Aufgenommen im Jahr 1993. © James Nachtwey / Contrasto

Don McCullin sagte, er glaube nicht, dass seine Fotografien einen Unterschied gemacht haben. Was denken Sie über Ihre Arbeit? Haben Sie gesehen, wie Fotografien eine Veränderung zum Besseren bewirkt oder Menschen informiert haben?

Ich glaube an die Macht der Informationen im Bewusstsein der Öffentlichkeit. [Mit Informationen werden die Menschen nicht mehr einfach nur] durch die bestehenden Mächte monopolisiert. Der Veränderungsprozess hängt davon ab. Es gibt empirische Belege dafür, dass die Arbeit der Presse – nicht meine Arbeit oder die Arbeit eines beliebigen anderen Journalisten, sondern die Arbeit von uns allen gemeinsam – eine kritische Masse an Informationen schafft, die dazu beiträgt, Veränderungen herbeizuführen. Es gibt Kriege, von denen die Menschen glauben, dass sie hoffnungslos sind und nie enden werden, aber das tun sie, und einer der Gründe dafür sind die Informationen und das kollektive Bewusstsein, das sie schaffen. Als der Krieg im Irak begann, war die amerikanische Öffentlichkeit mit überwältigender Mehrheit dafür. Ein paar Jahre später ist die Mehrheit der Amerikaner überwiegend dagegen. Was hat dieser Unterschied herbeigeführt, wenn nicht Informationen?

Kommen wir auf Ihr neuestes Projekt zu sprechen – „Memoria“, eine grosse Retrospektive, die auch als Buch veröffentlicht wird. Was hoffen Sie, damit zu erreichen?

Ich habe dies als Gelegenheit genutzt, um auf einer anderen Plattform zu kommunizieren, nicht in der Presse, sondern in einem Ausstellungsraum. Meine Arbeit soll in den Massenmedien vorgestellt werden, während diese Ereignisse stattfinden, sodass sie Teil des täglichen Dialogs werden. Aber es muss auch eine sekundäre Verwendung dieser Bilder ausserhalb dieses Kontextes angedacht werden. So sehr es bei der Fotografie um einen einzigen Moment geht, ist sie dennoch auch zeitlos. Wenn Sie Bilder separat von den Nachrichten sehen, betrachten Sie sie auf unterschiedliche Weise.

Meine Bilder sollen nicht bestätigen, was ich bereits weiss.

Ich stimme Ihnen vollkommen zu. In der Ausstellung erkannte ich ein starkes Element der Spiritualität in einigen dieser Fotografien, das zum Nachdenken anregt. Ich fragte mich, was Sie über die Schwierigkeit denken, Schönheit dem bildlichen Grauen des Konflikts gegenüberzustellen. Wie gestalten Sie ein Bild in Ihrer Vorstellung? Instinktiv?

Ich arbeite im Moment. Es ist eine persönliche Reaktion auf das, was ich sehe. Es gibt keine Vorlage. Meine Bilder sollen nicht bestätigen, was ich bereits weiss. Der Prozess der Fotografie ist eine Möglichkeit, die Realität in Echtzeit und im realen Raum zu erforschen. Alles ist das Ergebnis von Improvisation. Wenn Schönheit existiert oder parallel zu einer Tragödie existiert, ist das Teil des Lebens, nicht etwas, das ich oder ein anderer Fotograf hinzufüge. Ich mache keine Bilder nur um der Schönheit willen. Sie könnte ein Element des Geschehens sein, und ich weiss nicht genau, warum das so ist. Sie könnte ein Mechanismus innerhalb der menschlichen Natur sein, der es uns erlaubt, die Tragödie zu betrachten, ohne sich abzuwenden. Vielleicht ist das ihr Zweck. Aber wenn jemand eines meiner Bilder ansieht und nur etwas Schönes darin erkennt, ist das Bild gescheitert.

In a battle-scarred bedroom, a Croat militiaman leans out of the window and fires on his Muslim neighbours with a rifle.
Der Kampf um die Kontrolle über Mostar fand von Haus zu Haus, von Raum zu Raum und zwischen Nachbarn statt. Hier wurde ein Schlafzimmer zu einem Schlachtfeld. Aufgenommen in Mostar (Bosnien und Herzegowina) im Jahr 1993. © James Nachtwey / Contrasto

Ich möchte über einige konkrete Beispiele aus der Ausstellung sprechen. Einige sind sehr wohl bekannt, fallen aber immer noch stark ins Auge. Das erste Bild stammt aus der Schlacht von Mostar in Bosnien im Jahre 1993. Es zeigt einen kroatischen Kämpfer, der mit seiner Waffe aus einem Fenster (oben) schiesst ...

Ich war gerade zum ersten Mal in Bosnien eingetroffen. Ich kam am zweiten Tag der Schlacht dort an. Ich war mit einem anderen Fotografen unterwegs, und wir haben es geschafft, uns einer Gruppe von kroatischen Milizionären anzuschliessen, die von Haus zu Haus, von Raum zu Raum kämpften und versuchten, ihre muslimischen Nachbarn zu vertreiben, mit denen sie seit Generationen in Frieden gelebt hatten. Bei diesem post-nationalen Bürgerkrieg, der Jugoslawien auseinanderbrach, formierten sich normale Bürger in Milizen, um souveräne Einheiten für ihre eigenen ethnischen Gruppen zu schaffen.

Einer der Milizionäre wurde direkt vor mir im Gang angeschossen, bevor ich dieses Bild aufnahm, und der andere Fotograf, mit dem ich unterwegs war, leistete ihm Erste Hilfe. Niemand sonst in ihrer Gruppe schien zu wissen, wie man das macht. Für mich hat das Bild [des zielenden Kämpfers] Resonanz, da es in einem Schlafzimmer stattfindet. Ein Schlafzimmer ist ein Ort, an dem Menschen ruhen und träumen, wo das Leben selbst beginnt, und hier war es ein Schlachtfeld.

Sie haben viele Opfer von Konflikten getroffen. Gehen Sie jemals zurück oder bleiben Sie in Kontakt mit den Menschen, die Sie unter diesen Umständen fotografiert haben?

Das ist nicht die Rolle, die ich spiele. Ich gehe an Orte, an denen Konflikte und Chaos herrschen, und die Dinge dort laufen sehr schnell ab. Ich habe zu dieser Zeit Beziehungen geknüpft, aber ich ziehe weiter. Die Menschen ziehen weiter.

Dust and debris fly skywards as the south tower of the World Trade Center collapses in New York on 11 September 2001. In the foreground is a rusted cross on the roof of a building.
„Ich traf am 10. September um ca. 23:30 Uhr in New York ein, und die Türme des World Trade Centers waren von meinem Fenster aus gut zu sehen. Als ich am Morgen aus dem Fenster schaute, sah ich, wie schwarzer Rauch aus dem ersten Turm kam.“ Aufgenommen in New York (USA) am 11. September 2001. © James Nachtwey / Contrasto

Sie waren am 11. September 2001 direkt am Ground Zero in New York, als der Südturm einstürzte. Ich habe das Gefühl, dass diese Arbeiten für Sie zu den persönlichsten gehören. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Tag, und wie fühlen Sie sich, wenn Sie jetzt zurückblicken?

Ich glaube, ich habe es nie überwunden. Ich traf am 10. September um ca. 23:30 Uhr nach einer Reise nach Frankreich in New York ein, und die Türme des World Trade Centers waren von meinem Fenster aus gut zu sehen. Als ich am Morgen aus dem Fenster schaute, sah ich, wie schwarzer Rauch aus dem ersten Turm kam. Ich hatte keine Ahnung, was das war. Ich dachte, es wäre vielleicht ein Unfall, aber [ich spürte, es war] etwas Wichtiges, also habe ich meine Kamera-Ausrüstung zusammengesucht. Als ich bereit war aufzubrechen, sah ich erneut aus dem Fenster, und der zweite Turm brannte. Ich erkannte, dass Amerika angegriffen wurde.

Ich rannte dorthin und begann zu fotografieren. Als ich den Südturm ins Visier nahm, bemerkte ich eine Kirche mit einem Kreuz und nutze sie als Fokus – als Vordergrundelement, das instinktiv richtig schien. Als ich fotografierte, brach der Turm direkt vor meinen Augen zusammen. Es war überwältigend. Mein Verstand verfiel in Zeitlupe, und all die riesigen Metallstücke, die wie Streichhölzer durch die Luft flogen, schwebten in Zeitlupe vorbei. Ich dachte, ich hatte alle Zeit in der Welt.

Ich erkannte, dass mir nur ungefähr fünf Sekunden blieben. Wenn ich ein Bild davon aufnehmen würde, würde ich nicht überleben.

Ich erreichte das letzte Bild (ich nahm mit Film auf), und meine Kamera stoppte. An diesem Punkt tauchte ich wieder in die echte Zeit ein und erkannte, dass ich gleich getroffen würde. Ich schaffte es, mich irgendwo unterzustellen, und dann brach alles um mich herum zusammen. Ich wurde an den Ort gezogen [an dem der erste Turm gefallen ist], um zu sehen, wie es dort aussah. Da waren zerstörte Feuerwehrfahrzeuge, zerstörte Polizeiautos – eine Szene, die wie nach der Apokalypse aussah. Ich wurde so sehr von diesem Ort angezogen, dass mir nicht in den Sinn kam, dass der zweite Turm, genau wie der erste, wahrscheinlich auch fallen würde und ich dann direkt darunter stehen würde. Ich erkannte, dass mir nur ungefähr fünf Sekunden blieben, bevor alles zu Boden stürzen würde, und dass ich, wenn ich ein Bild davon aufnehmen würde, nicht überleben würde. Mein Überlebensinstinkt setzte ein, und irgendwie fand ich wieder Zuflucht.

Zunächst dachte ich, ich sei unter den Trümmern begraben, weil alles völlig schwarz war. Inmitten von all dem Rauch und Staub blieb mir die Luft weg. Schliesslich schaffte ich es heraus und ging dann zum Ground Zero, wo ich den Rest des Tages verbrachte. Ich erkannte, dass viele Menschen getötet wurden, und die Sympathie und Wut, die ich fühlte, waren nicht anders als die, die ich für die Opfer des Krieges an anderen Orten empfunden hatte, an denen ich gewesen war. Meine Gefühle hatten nichts mit meiner Nationalität zu tun. Man fand keine Überlebenden. Wir erkannten, dass sie alle begraben waren und dass es keine Überlebenden gab.

Es war beängstigend. Ich wusste, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte, da ich bereits auf vielen Schlachtfeldern war und wusste, wie man in dieser Situation vorgeht. Krankenwagen standen in langen Reihen, um die Verwundeten wegzubringen, aber es gab keine Verwundeten.

People mill around the war-ravaged streets of Kabul, Afghanistan, some on bicycles, while two men sit on the barrel of a tank gun.
Aufgrund der Nachwirkungen des Krieges in städtischen Gebieten haben die Überlebenden keine andere Wahl, als in den Ruinen ihrer Häuser und Wohnviertel zu leben – so normal wie möglich, trotz der Tatsache, dass die Architektur, die ihr Leben definierte, zusammengebrochen ist. Aufgenommen in Kabul (Afghanistan) im Jahr 1996. © James Nachtwey / Contrasto

Fotografen erledigen nicht nur eine Arbeit, sie sind Zeugen, und wir wissen, dass sie gegenüber den Folgen nicht immun sind. Sie haben eine so lange, bemerkenswerte Karriere in diesem Bereich. Sie haben einige schreckliche Dinge gesehen. Wie gehen Sie mit diesen Erinnerungen um?

So würdevoll, wie ich kann, hoffentlich. Mit Schwierigkeiten.

Finden Sie es leichter, darüber zu diskutieren oder sich einfach auf die nächste Aufgabe zu konzentrieren?

Ich diskutiere diese Dinge nicht mit Menschen, die nicht in diesen Situationen waren, weil es für sie einfach unmöglich ist, sie zu verstehen. Das ist nicht ihre Schuld. Unter meinen Kolleginnen und Kollegen, einer bemerkenswerten Gruppe von Menschen, teilen wir diese Erinnerungen und Gefühle ... und verstehen einander instinktiv. Wir müssen eigentlich gar nicht darüber reden, und wenn wir es doch tun, dann wissen wir, wovon wir reden. Es ist etwas, das man immer bei sich trägt. Man muss nicht nur bereit sein, physische Risiken, Gefahren und Nöte auf sich zu nehmen, sondern auch die emotionalen Hindernisse. Das bringt dieser Beruf mit sich.

Sprechen wir über Ihre neueren Arbeiten. Da gibt es ein Foto aus Kambodscha, das eine Mutter mit ihrem Sohn zeigt, der an Tuberkulose (TB) und Meningitis erkrankt ist. Es ist fast eine Marienbild-ähnliche Komposition. Es bleibt in Erinnerung, vielleicht wegen dieser Assoziation. Für mich zeigt es, dass moderne medizinische Wissenschaft Wunder bewirken kann, es aber in der Dritten Welt oder weniger gut ausgestatteten Ländern immer noch Leid gibt. Haben Sie diesen Auftrag ebenfalls auf eigene Initiative verfolgt?

Zum ersten Mal habe ich mich im Rahmen einer Partnerschaft mit dem Cambodian Health Committee mit Tuberkulose beschäftigt. Diese gemeinnützige Institution wurde von Dr. Anne Goldfeld aus Harvard gegründet, die nach Kambodscha reiste, um Menschen mit TB zu helfen. Es war eine staatliche medizinische Einrichtung, die sehr wenig Medikamente und nur Ärzte ohne umfassende Ausbildung zur Verfügung hatte. Die Familien der Patienten übernahmen den Grossteil der Pflege selbst, weil es so einen starken Personalmangel gab. Ich glaube, dieses Bild zeigt die Liebe.

Das tut es.

Ich glaube, dass die Liebe den Jungen mehr am Leben hielt, als alles andere.

Hatte er Zugang zu Medikamenten oder Behandlungen?

Sehr wenig.

Das Ergebnis war wahrscheinlich nicht gut?

Ich weiss es nicht. Ich hoffe, dass er überlebt hat. Seine Mutter hatte damals noch nicht aufgegeben. Sie war voller Hoffnung, ganz gleich, wie verzweifelt die Situation war.

A man carries his son in his arms across a raging river as he tries to cross the border from Greece into Macedonia in 2016.
Dieser Flüchtling trägt seinen Sohn im Jahr 2016, um ihn vor dem sintflutartigen Fluss zu schützen, als er versucht, die Grenze von Griechenland nach Mazedonien zu überqueren. „Man muss sein Bestes geben, um die Geschichte richtig zu erzählen“, sagt Nachtwey. „Wir erleben Geschichte in Echtzeit. Wir wissen nicht, was das alles bedeutet, und deshalb fotografieren wir es.“ © James Nachtwey / Contrasto

Kürzlich waren Sie in Griechenland, um zusammen mit vielen anderen Fotografen die europäische Flüchtlingskrise zu fotografieren. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?

Ich reiste in dieser Zeit drei Mal nach Europa. Während der ersten Reise kam ich in Belgrad an, als die ungarische Grenze gerade geschlossen wurde. Die Flüchtlinge strömten daraufhin in Richtung Kroatien und Slowenien. Ich wurde am Flughafen von meinem Dolmetscher und Begleiter abgeholt, und wir brachen sofort in diese Richtung auf, ohne zu wissen, was uns erwartet.

Ich sah eine Gruppe von Menschen, die über Felder lief. Ich stieg einfach aus dem Auto und folgte ihnen. Ich sagte meinem Führer: „Ich weiss nicht, wo ich hingehe. Versuchen Sie einfach, mich am Ende des Tages zu finden.“ Die Leute wussten nicht einmal, in welchem Land sie sich aufhielten. Ich glaube nicht, dass sie wirklich wussten, wohin sie gingen. Sie wurden von Verzweiflung und Hoffnung zugleich angetrieben. Sie kämpften sich durch die Felder und gelangten endlich zu einem Bahnhof. Niemand wusste, ob ein Zug kommen würde oder wohin er sie bringen würde.

Von dort aus reiste ich weiter nach Lesbos in Griechenland, um die Menschen zu fotografieren, die über die Meerenge aus der Türkei kamen und am Strand anlegten. Dann ging es schliesslich nach Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze. Die Grenze war geschlossen, und die Menschen sassen in verwahrlosten Zeltlagern im Schlamm und Regen fest. Das geschah im 21. Jahrhundert in Europa. Wären es Zelte aus Tierhäuten statt High-Tech-Zelte gewesen, hätten sich diese Szenen auch im Mittelalter abspielen können.

Heute gehören Fake News zur Tagesordnung, und die Leute scheinen nicht mehr zu wissen, wie sie Fakten von Fiktion unterscheiden können und was die Fotografie ihnen bieten kann. Was denken Sie über Fake News und das Dilemma der Wahrhaftigkeit und Glaubhaftigkeit in der Fotografie?

Journalismus basiert auf Integrität. Organisationen oder Einzelpersonen, die wissentlich etwas falsch darstellen oder schlichtweg lügen, werfen einen Schatten auf den Beruf, der nicht gerechtfertigt ist. Die besten Zeitungen und Zeitschriften, die besten TV-Sender und Nachrichtenagenturen halten sich an einen Kodex der Ethik und Normen. Die Menschen können sich wirklich auf diese Organisationen mit nachweislichen Ergebnissen verlassen. Wenn Politiker diese Organisationen als Fake News bezeichnen, liegt das wahrscheinlich daran, dass die Wahrheit nicht ihre Zwecke erfüllt. Ich glaube, wir müssen den Bürgern die Fähigkeit zusprechen, sich selbst ein Bild der Dinge zu machen.

Glauben Sie, dass der Journalismus im 21. Jahrhundert gesund ist?

Ja, ich glaube, er ist sehr gesund und entwickelt sich. Journalismus ist notwendig, damit die Gesellschaft richtig funktioniert. Er wird nicht verschwinden. Er wird stärker werden. Welche Werkzeuge derzeit auch eingesetzt werden, wir werden sie richtig einsetzen. Und wenn dann etwas Neues hinzukommt, können wir uns daran anpassen. Ich kann nicht viel zu den wirtschaftlichen Aspekten einer Nachrichtenorganisation sagen, da ich nichts darüber weiss, aber ich bin mir sicher, dass die Menschen, die sich damit auskennen, Wege finden, um sich anzupassen.

Verfasst von Rachel Segal Hamilton


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